Letztes Jahr, gleich zu Anfang der Corona-Zeit habe ich Euch aus dem Altenheim berichtet. Neben meinem Blog bin ich ja, wie manche von Euch wissen, Physiotherapeutin.
Eigentlich gehe ich schon lange nicht mehr auf Hausbesuch ins Altenheim – die Umgebung dort war schon ohne Corona immer sehr deprimierend. Aber dann kam meine alte Dame, bei der ich bis dahin schon fast 10 Jahre Hausbesuche bei ihr daheim gemacht hatte, ins Altenheim. Da bin ich dann natürlich „mit umgezogen“. Kurz nach ihrem Einzug kam Corona. Es muss schrecklich gewesen sein. Erst der Abschied aus der gewohnten Umgebung in der Familie, und dann gleich in die wochenlange totale Isolation.
Meine alte Dame ist im Geist noch zu hundert Prozent fit. Sie ist lustig und freundlich, hilfsbereit, achtet auf ihr Äußeres, mag gerne ein bisschen Plaudern. Außerdem ist sie so wahnsinnig fürsorglich! An den Tagen, an denen wir unseren Termin zur Physiotherapie haben, verzichtet sie beim Mittagessen auf die Nachspeise und hebt sie für mich auf. „Ich kenn Dich schon,“ sagt sie dann zu mir „Du hast heute schon wieder den ganzen Tag nichts gegessen!“ Meistens hat sie wirklich recht, an den Tagen, an denen ich auch noch auf Hausbesuch unterwegs bin, komme ich tatsächlich selten zum Essen. Kinder versorgen, Blog versorgen, Behandlungen in der Praxis und dann auch noch los, um außer Haus zu arbeiten, da bleibt wirklich oft keine Zeit zum Essen.
Und dann sitze ich da und bin so dankbar für den Kuchen oder das Kompott, oder was es auch gegeben hat als Mittags-Nachspeise, und sie schaut mir zu und freut sich, dass sie mir was Gutes tun kann. Ich würde den Kuchen auch niemals ablehnen, selbst wenn ich grade keinen Hunger hätte. Ich bin überzeugt, dass das Gefühl, gebraucht zu werden, und wenn es nur der Kuchen für die Katy ist, essentiell für sie ist.
Umso mehr, als dass ich jetzt zu Corona-Zeiten eigentlich die einzige feste Bezugsperson in ihrem Leben bin. Ihre Familie sieht sie kaum. Nicht, weil die sie im Stich gelassen hätten – es darf schlicht und einfach niemand ins Heim.
Also, es darf schon Besuch kommen. Ein Mal in der Woche im Speisesaal. Mit drei Metern Abstand. Es stehen zwei Tische mit einem Abstandshalter gegenüber, und beide Menschen, der oder die Senior:in und der oder die Besucher:in, sind verpflichtet, eine Maske zu tragen.
Meine alte Dame ist fast blind und auch mit Hörgeräten sehr schwerhörig. Ein Besuch mit Abstand und Maske in einem hallenden Speisesaal ist, mit Verlaub, fürn Arsch.
Alte Menschen sind wie kleine Kinder. Sie mögen wieder Quatsch machen, sie mögen es, wenn man laut lacht, sie brauchen Berührungen, sie brauchen körperliche Nähe. Sie brauchen viele Infos von draußen, vom Leben, damit sie nicht vergessen, wie sich das Leben eigentlich anfühlt. Im Altenheim war schon immer der Stillstand die vorherrschende Energie. Es bewegt sich einfach nicht mehr so viel in einer Umgebung, in die alle letztendlich zum Sterben kommen.
Aber seit Corona ist dieser Stillstand, diese Stille massiv geworden. Die Leute sind so unfassbar einsam. Letztens ist die liebe alte Lady mit einer ihrer Heim-Bekanntschaften auf der Bank am Gang gesessen, als ich gekommen bin. „Katy komm, setz Dich ein bisschen zu uns.“
Na klar hab ich mich dazugesetzt und einen Schwank aus meinem Leben erzählt. Natürlich einen lustigen, damit die Damen was zu lachen haben. Und was glaubt Ihr, was passiert ist?
Innerhalb von drei Minuten haben die anderen Leute auf der Station mitbekommen, dass jemand da ist, der mit ihnen redet, und wir waren umringt von knapp 10 Bewohner:innen (jetzt hätte ich fast „Insassen“ geschrieben), die sich auch unterhalten wollten. Sie haben alle durcheinander geredet. Der eine hat mal ein Auto im Preisausschreiben gewonnen, der andere hat früher im Krankenhaus gearbeitet. Eine Dame hat von ihren Kindern erzählt, die andere von ihrem Garten.
Es war so schön, aber auch gleichzeitig so traurig.
Was komisch ist: alle sind mittlerweile geimpft, und auch wenn sie das Gebäude nie verlassen, immer unter sich sind, und außer dem Personal, mir und einigen wenigen anderen Ärzt:innen und Therapeut:innen keiner von draußen rein kommt, und selbst das nur mit aktuellem Test, dürfen sie nicht mal unter Freund:innen nah beieinander sitzen. Da kommt sofort eine Schwester und ermahnt die Senior:innen zum Abstand. Die Fast-Blinden, Fast-Tauben, die alle geimpft sind, die kaum Kontakt zu ihren Familien haben dürfen, müssen immer strengstens mindestens eineinhalb Meter Abstand zueinander halten.
Aber es hilft ja nichts. Sterben wollen nämlich die meisten auch noch nicht. Und so hört man auch im Altenheim überall Durchhalteparolen. „Es ist schon eine narrische Zeit,“ sagen die Senior:innen. „Aber wir haben schon Schlimmeres überstanden. Das schaffen wir auch. Abwarten und auf das Beste hoffen.“
Na, dem ist ja eigentlich nichts hinzuzufügen, oder?