In Deutschlands Gärten spielen sich, meistens unbemerkt von den Menschen, große Dramen ab. Wer weiß schon, wie es für die Ameisen ist, wenn ein Riese einfach ihr zuhause zerstört? Wie es für den Maulwurf ist, wenn er mit Petroleum oder anderen Mitteln überall verjagt wird, wo er sich aufhalten will? Wie es für die Bienen ist, wenn sie über Rasen und gestutzte Hecken fliegen und nirgends was zu essen und sammeln finden?
Den Menschen ist das egal. Wenn man sich den Zustand unserer Welt so ansieht, könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Haupteigenschaft der Menschheit als Gesamtes unendlicher Egoismus ist. Vielleicht ist das auch ein bisschen gemein. Einem Baby, das ständig schreit, würde auch keiner Egoismus vorwerfen, nur weil es ich-bezogen ist und keine Rücksicht auf die Gefühle seiner erschöpften Eltern nimmt.
Vielleicht ist die Menschheit ja auch sowas wie ein Baby? Ein ich-bezogenes Bewusstsein, das bislang einfach noch keine Idee davon hatte, dass seine Umwelt nicht nur dazu da ist, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wer weiß.
Ein Beispiel dieses Baby-Bewusstseins, dieses menschlichen Egoismus, der einfach noch nicht in der Lage ist, sich in andere Lebensformen hineinzuversetzen, ist die Geschichte vom Igel im Holzstoß:
In einer kleinen Provinzstadt in Deutschland stand im Garten eines Mietshauses, zusammen mit ihren Baum-Geschwistern, eine riesige Buche. Im Land der Bürokratie gibt es natürlich eine „Baumschutzverordnung“. Eigentlich dürfte so ein stattlicher Baum also gar nicht angerührt werden, aber natürlich sieht die Baumschutzverordnung auch Ausnahmen vor – es darf ja niemals zu wenig Bürokratie geben. Eine dieser Ausnahmen ist, wenn von einem Baum eine Gefahr ausgeht. Und vor allem der Meinung des Hausmeisters des Mietshauses nach war die Buche ein gefährliches Lebewesen. Zum Glück für den Hausmeister und zum Pech für den Baum konnte die Baumschutzverordnung die arme Buche in diesem Fall nicht schützen, weil sie im Stamm eine Gabelung hatte. Der Gesetzgeber hat natürlich schon von Vornherein die Risiken von großen Gabelungen in Baumstämmen bedacht. Immerhin könnte da ja mal der Blitz einschlagen, und dann bricht der halbe Baum weg, oder es sammelt sich Wasser in der Gabelung, das Holz wird morsch und könnte irgendwann den Baum zum Bersten bringen – solchen Risiken kann man immer am besten vorbeugen, indem gleich der ganze Baum abgesägt wird. Und überhaupt weiß man ja, dass große Bäume einfach störend viel Schatten werfen und insgesamt eigentlich nur nerven. Am meisten durch die Unmengen an unnützem Laub, das sie abwerfen. Aber auch dadurch, dass sie lauten Vögeln und unsäglichen Krabbeltieren ein Zuhause geben. Und die sch… dann auch noch alles voll. Und Gott bewahre – auf die Autos! Wir leben schließlich nicht nur im Land der Bürokratie, sondern auch der Autoliebhaber und -fahrer. Die brauchen eindeutig mehr Schutz als so ein Baum. Also, die Autos, nicht die Fahrer. Die natürlich auch, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls wächst so ein Baum nach. Ein Auto nicht! Und Autos wachsen schließlich nicht auf Bäumen! Deshalb müssen die Bäume diejenigen sein, die den Platz räumen müssen. Nicht die Autos, und natürlich nicht die Menschen. In der Rangfolge der Wichtigkeit, also, wer weichen muss, und wer bleiben darf, ziehen die armen Bäume immer den Kürzeren. Würden sie doch nur WLAN und nicht Sauerstoff produzieren, dann hätten sie auf jeden Fall einen besseren Stand.
Könnt Ihr Euch noch an die Proteste um den Stuttgart21-Bahnhof erinnern? Die wenigen Menschen, die die Bäume beschützen wollten, sind am Ende vor Gericht und die riesigen hunderte von Jahren alten Holzgewächse (waren es Linden? Ich weiß es nicht mehr) im Sägewerk. So ist nun mal das Leben. Und es ist ja auch richtig so – immerhin sagt das das Gesetz. Und das hat bekanntlich immer recht.
Und nicht nur das Gesetz hat immer recht. Auch „die Gesellschaft“, also „was man eben so macht“, hat zumeist recht. Auch das kann man gut in den Gärten „unserer Gesellschaft“ beobachten. Zum Beispiel beim Gras: „man muss“ es immer kurz halten, damit sich auch ja keine Insekten oder am Ende noch größere Tiere oder vielleicht sogar noch andere Pflanzen außer Gras darin wohlfühlen. Das geht ja mal gar nicht. Und was sollen die Nachbarn und Passanten denken?
Die Natur soll gefälligst bleiben, wo sie ist – außerhalb von Gärten, Städten, Dörfern. Ja, am besten weit weg von jeglicher Zivilisation. Es reicht doch, wenn die Natur da ist, wo man am Wochenende mit dem Auto hinfahren und sie bewundern kann. Aber nur ein bisschen, und auch nicht zu natur-ig. Wer mag schon Mücken und Spinnen und Zecken? Eben! Kein Mensch!
Also auch Kurzurlaub oder Ausflug bitteschön nur mit gezähmter Natur. Immerhin brauchen wir Menschen Wanderwege, Handläufe, Imbissbuden, Eisstände, Souvenirs, Sitzgelegenheiten und so weiter. Dass da, wo man jetzt (also, zu Nicht-Corona-Zeiten!) gemütlich im Cafe sitzen und das Alpenpanorama samt Natur bewundern kann, zuvor Vögel gebrütet haben, seltene Pflanzen gewachsen sind, Krabbeltierchen jeglicher Couleur ein Zuhause hatten – darüber denkt kein Mensch bei Moccachinolattemitechtitalienischemmilchschaum nach. Hauptsache, die Sachertorte schmeckt, die Tourismusbranche macht ihren Reibach, äh, natürlich ihren angemessenen Umsatz, und die Ausflügler haben einen wunderbaren Tag „in der Natur“.
Aber ich schweife ab. Es geht ja um den Baum im Garten der deutschen Provinzstadt. Also, er wurde abgesägt. In einer riesigen, unfassbar lauten und gewalttätigen Aktion. Mit Ketten, Motorsägen, Keilen, und allerlei Gerät und Fahrzeugen wurde er schließlich zu Fall gebracht. Die Arbeiter waren stolz auf ihr Werk und der Baum tot. Ein trauriges Ende für ein gesundes, atmendes, lebendes Wesen.
Aber dann, wie so oft im Leben, geschah etwas unerwartet Wunderbares. Aus Tod und Gewalt erwuchs etwas Neues. Obwohl dieser riesige Baum eine Menge Geld wert gewesen wäre, ließ der Vermieter den zersägten Baum zu einem Stapel aufrichten und liegen. Vermutlich hat er den einfach vergessen.
Zum Glück gibt es keine Holzstapelverordnung, die es erzwungen hätte, das Holz wegzuräumen, und der Holzstoß blieb, für Hausmeister und einige Hausbewohner zum Ärgernis, einfach liegen. „Wie sieht denn das aus?!“ empörten sie sich. Aber der Vermieter hatte schon wieder andere wichtige Dinge zu tun, und so hat sich hinter dem Haus im Garten aus der toten Buche ein winzigkleines innerstädtisches Biotop entwickelt. Von der Straße aus sah man es kaum, es war überhaupt nicht im Weg, und das Wundervolle ist: es ist zu einem richtigen Lebensraum für Insekten und Vögel geworden. Sogar ein Igel ist eingezogen ein zwischen den Rundlingen. So musste zwar die arme, gesunde Buche unnötigerweise ihr Leben lassen, aber immerhin hat sich aus ihrem Tod ein wunderbarer neuer Lebensraum entwickelt.
Und dann wurde es noch einmal spannend. Nachdem sich jahrelang keiner um das Holz gekümmert hatte, die Natur die Wunde geheilt hatte, und das Leben wieder in seiner Vielfalt angekommen war, sollte der Holzstoß plötzlich weggeräumt werden. Eine Katastrophe für alle Pflänzchen und Tierchen, am schlimmsten hätte es den Igel getroffen. Menschen mit schwerem Gerät, riesige Autoreifen, riesige, schwere Stiefel – der Igel hätte niemals eine Chance gehabt zum Überleben. Stadt-Igel sind anders als Landigel. Sie können nicht so leicht ihren Standort wechseln, immerhin ist jeglicher Lebensraum in der Stadt sehr begrenzt.
Wenn es um Umweltschutz geht, gibt es ja leider nur selten Happyends. In diesem Fall kann ich Euch gute Neuigkeiten berichten: der Holzstoß darf jetzt so lange bleiben, bis sich jemand findet, der ihn samt Igel übernimmt. Dann werden die Stämme durchnummeriert, sanft und ohne schweres Gerät von Hand auf einen Hänger geladen, das Igelchen wird vorsichtig gesucht und in eine Transportkiste gepackt, und dann wird das ganze Minibiotop an einem sicheren Ort wieder aufgebaut und darf dort wieder Zuhause sein für alles, was lebt.
Manchmal gibt es eben doch kleine Erfolge im Umweltschutz. Und viele kleine Erfolge ergeben in der Summe dann auch einen großen. Lasst uns weiter gemeinsam viele kleine Erfolge erzielen, alles Leben wertschätzen, und retten und helfen, was geht.
Für die Biene, der Du jeden Tag ein bisschen Wasser auf den Balkon stellst, bedeutet eine für Dich winzige Handlung vielleicht das Überleben.
Für die Welt bist Du nicht irgendwer. Für die Welt ist jedes Leben wichtig und einzigartig. Du bist eine Retterin, eine Heldin, Du kannst mit Deinen vermeintlich kleinen Taten und Erfolgen die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen.
Lasst uns so viele Holzstöße retten und Vogelbäder bauen, Rasen im Garten wachsen und Käferchen krabbeln lassen wie möglich!
Wir sind viele! Und wir schaffen das!
Lasst uns so viele Happy-Ends erschaffen wie wir können!
Wo ist denn dieser Stapel? Ich würde ihn nehmen, wenn es machbar und sinnvoll ist, ihn in einen großen, halbwilden Garten in einem kleinen Dorf in Niedersachsen zu bringen. Es gibt allerdings zwei Hunde hier.
Liebe Grüße
Anja