Vor einiger Zeit ging ein Mensch mit seinem Hund an der Leine im Park spazieren. Es war ein wunderbarer Tag, die Sonne blinzelte durch das Laub der Bäume, die Vögel gaben ihre schönsten Lieder zum Besten, das Leben fühlte sich leicht und frei an. Der Hund ging glücklich an der Leine seines Menschen, schnüffelte mal hier und mal da einem Grashalm und freute sich über die Sonne, das Rauschen der Bäume und den Gesang der Vögel.
Manchmal, wenn der Duft an einem der Blätter sehr interessant war, waren sich Mensch und Hund uneins, wie lange die man denn an so einem Blättchen schnüffeln sollte. Leider setzte sich der Mensch in diesen Momenten immer durch, und die beiden gingen weiter. Obwohl es doch noch so viel zu erschnüffeln gegeben hätte. Der Hund wurde dann kurz ein bisschen ärgerlich, aber so war es nun mal – Menschen treffen einfach die besseren Entscheidungen, das weiß man ja.
Und so spazierten die beiden durch den Park, auf den Wegen und in der Geschwindigkeit, die der Mensch sich ausgesucht hatte, und der Hund folgte ihm brav, wenn auch manchmal unter leichtem Protest, an der Leine.
Ab und an trafen sie auf andere Hunde. Leider waren auch sie an der Leine, und für mehr als ein kleines „Hallo“ blieb keine Zeit, bevor die Menschen sich wieder verabschiedeten und weiter gehen wollten. Dabei waren einige wirklich nette Menschen und Hunde dabei, mit denen der Hund gerne gespielt hätte. Allerdings spielt es sich schlecht, wenn eine Leine und der Wille des Menschen das nicht zulassen, und der Hund wurde jedes Mal ein bisschen ärgerlicher.
Als sich der Mensch auf eine Bank setze, legte sich der Hund daneben ins weiche Gras. Seine Stimmung war in diesem Moment gar nicht mehr so gut, wie noch am Anfang des Spaziergangs. Es war immer das gleiche: er wollte ausgiebig schnüffeln, aber der Mensch sagte „nein, ich will jetzt weitergehen“. Er wollte einer Fährte hinterher jagen, der Mensch sagte „nein, komm mit mir“. Der Tag hatte so gut angefangen, aber die blöde Leine verhinderte jede Art von Spaß.
So lag der Hund im Gras im grummelte vor sich hin. Eine Krähe hatte ihn von ihrem Baum aus schon eine Zeit lang beobachtet, und da sie ein bisschen schadenfroh war, fing sie an, den Hund zu ärgern. „Siehst Du, wie frei ich bin?“ feixte sie von ihrem Baum herunter. Der Hund blickte nach oben, um zu sehen, wer sich da auch noch über ihn lustig machte. „Kannst Du sehen, wie unglaublich frei ich bin?“ und lachend hüpfte sie von einem Bein auf den anderen. Die Miene des Hundes verdüsterte sich. Er versuchte, die blöde Krähe zu ignorieren, und begann, an ein paar Grashalmen zu kauen. Die Krähe begann, von einem Ast auf den anderen zu flattern. „Und ich kann auch noch fliegen!“ krähte sie zum Hund hinunter. „Und Du bist da unten auf dem Boden sogar noch festgebunden!“
Der Hund verdrehte genervt die Augen. Grade jetzt in diesem Moment störte ihn die Leine mächtig. Allerdings hätte er gegen das freche Tier auf dem Baum auch ohne Leine nichts ausrichten können. Hunde sind einfach nicht fürs Klettern gemacht. Und Flügel haben sie erst recht keine. „Lass mich in Ruhe,“ knurrte der Hund. Der Mensch hörte, dass der Hund die Krähe anknurrte und streichelte ihn ein bisschen. Das war schön, der Hund mochte gerne gekrault und gestreichelt werden, und er vergaß die Krähe für einen Augenblick. Als die Krähe sah, wie der Hund gestreichelt wurde, und wie es ihm gefiel, zweifelte sie kurz daran, ob sie es so viel besser hatte, als der Hund. Immerhin war sie immer sicher gewesen, dass Menschen böse waren. Das hatten ihr ihre Eltern beigebracht, die es wieder von deren Eltern gelernt hatten, und die wieder von deren Eltern, und so weiter. Und wenn etwas über viele, viele Generationen hinweg für richtig gehalten wurde, musste es schließlich wahr sein.
Als der Mensch beschloss, dass es jetzt Zeit war zum Weitergehen, war der Hund froh. Endlich war er die blöde Krähe und ihre ebenso blöden Kommentare los.
Als Mensch und Hund am nächsten Tag wieder in den Park kamen, wartete die Krähe schon am Parkeingang auf die beiden. Sie flog hoch oben in den Wipfeln neben den beiden her, und ärgerte den Hund wieder. Jedes Mal, wenn er stehen bleiben musste, rief sie „schau, ich flieg einfach weiter! Mir sagt keiner, was ich zu tun und zu lassen habe!“. Und wenn der Hund gerne andere Menschen und Hunde in ein Spiel verwickelt hätte, und keine Erlaubnis dafür bekam, rief sie: „ich bleibe noch ein bisschen hier, ich hole Euch dann schon ein.“ und fing ein kurzes Spiel mit einem Zweig an.
Manchmal flog sie auch weg zu ihrer Krähenfamilie und kam erst am nächsten Tag wieder. Aber nie ohne eine hämische Bemerkung, dass sie ja schließlich tun könne, was sie wolle.
Der Hund hatte über die Monate echte Zweifel an seinem Menschen bekommen. Wieso sollte eigentlich immer er entscheiden, wann sie gehen, und wann sie stehen? Das Gute ist: der Mensch liebte seinen Hund über alles, und er hatte über die Jahre die Sprache der Tiere ein bisschen gelernt. Und er hatte auch ein bisschen gelernt, über sich selbst und die Welt nachzudenken. Als er spürte und verstand, dass sein Hund ein bisschen mehr Freiheit brauchte, begann auch er nachdenklich zu werden. „Vielleicht hab ich gar nicht immer Recht mit meiner Meinung?“ überlegte er bei sich. Er hatte ja, als er sich den Hund angeschafft hatte, in der Hundeschule gelernt, dass er derjenige war, der alles zu bestimmen hatte. Dort hatte man ihm beigebracht, dass sich Hunde am wohlsten fühlen, wenn sie sogenannte feste Grenzen bekämen. Und dass ein braver Hund das macht, was man ihm sagt, und ein böser Hund einen eigenen Willen hat. Erziehung hieß das Zauberwort. Das galt übrigens in der Menschenwelt auch für die Menschenkinder. Es gab wohlerzogene und ungezogene. Die einen waren die guten und die anderen die bösen Kinder. Aber der Mensch fing an nachzudenken, und sich und seinen Hund zu fragen, ob das denn alles so richtig war, was er über Erziehung gelernt hatte. Ob man nicht vielleicht Kompromisse zwischen Schnüffel-Bedürfnis und Spazier-Bedürfnis finden konnte. Ob man nicht vielleicht besser in einen Dialog geht, anstatt zu bestimmen. Klar, das machte die Spaziergänge irgendwie anstrengender, weil nun, grade am Anfang des Prozesses, über jedes Blatt diskutiert werden musste. Aber die beiden liebten sich, und mit der Zeit wurden die Spaziergänge ein wunderbarer Tanz aus Schritten, die der Hund vorgab, und welchen, die der Mensch vorschlug.
Die Krähe hatte diese Veränderung sehr wohl wahrgenommen. Vor allem auch deshalb, weil der Hund kaum noch auf ihre Sticheleien reagierte, und eins war mit sich und der Welt und seinem geliebten Menschen.
Aber natürlich, die Leine gab es noch. Und im Zweifelsfall entschied natürlich immer noch der Mensch.
Und dann wurde es Herbst. Dunkle Wolken zogen über den Park, es regnete und schon früh im Jahr ging der Regen in Schneeregen über. Das Leben draußen war plötzlich gar nicht mehr so leicht und unbeschwert, wie es das noch vor wenigen Wochen gewesen war. Die Krähe hatte es schwerer, Futter zu finden, und es gab Tage, an denen sie hungrig auf ihrem Ast einschlafen musste.
Der Hund kam nur noch selten in den Park. Meistens gingen sie jetzt nur eine kurze Runde. Zuhause war es warm und kuschelig, der Hund wurde stundenlang gekrault und durfte auf dem Sofa vor dem Fernseher liegen. Als die Krähe und der Hund sich doch einmal trafen, war die Krähe gar nicht zum Spaßen aufgelegt. Es war nass und kalt und ihre Stimmung entsprach in etwa der Außentemperatur. Der Hund war unglaublich gut drauf. Er wusste, wenn sie jetzt dann heimkommen würden, würde es sein Lieblingsessen geben und dann würde er im Warmen liegen und gemütlich vor sich hindösen.
Er hob beim Gehen seinen Kopf in Richtung der Krähe und sagte: „Weißt du, ich hab nachgedacht. Klar, du bist viel freier als ich, keiner macht dir Vorschriften, und fliegen kannst du auch noch. Und ich hab die blöde Leine, und es gibt so viele Regeln im Zusammenleben mit den Menschen. Und trotzdem geht es mir so viel besser als Dir: wenn ich krank werde, gibt es einen Menschen, der mir helfen kann, ich habe nie Hunger oder Durst, und ich muss nicht die vollkommen unverständlichen Verhaltensregeln im Umgang mit diesen scheußlichen Dingern auf vier Rädern lernen und mit den komischen Lichtern, die sie anhalten und fahren lassen. Das kann nämlich ganz schön verwirrend und gefährlich sein. Aber ich weiß auch, dass ich großes Glück habe – nur wenige Menschen sprechen die Sprache der Tiere. Das wäre doch das Beste, wenn alle Menschen unsere Sprache sprechen könnten. Dann würde es allen so gut gehen wir mir.“ Die Krähe war trotzig und antwortete: „Das mag schon sein. Aber dann hätten alle Tiere eine Leine oder einen Käfig und Menschen, die über sie bestimmen. Das war´s dann mit der Freiheit.“
„Mein Mensch sagt, ein paar Einschränkungen sind immer nötig, für jede Form von Zusammenleben. Egal, ob für Menschen oder Tiere. Sie nennen das Kompromiss. Wenn beide aufeinander hören, funktioniert das echt gut, das kann ich Dir sagen.“ In diesem Moment lenkte ein Kaninchen im Feld auf der anderen Straßenseite die ganze Aufmerksamkeit des Hundes auf sich, und er musste ihm natürlich sofort hinterher. Nur gut, dass es die Leine gab! Der Mensch hielt sie ganz fest in der Hand, und verhinderte so geistesgegenwärtig, dass der Hund in ein vorbeifahrendes Auto gelaufen wäre.
Auch das hatte die Krähe beobachtet. Vielleicht waren Menschen ja doch gar nicht so verkehrt? Zumindest manche von ihnen? Oder zumindest dieser eine? Sie erzählte ihrer Krähenfamilie von ihren Erfahrungen. Sie erkannten, dass Freiheit zwar etwas Wundervolles war, aber ein paar von diesen komischen „Kompromissen“ vielleicht ganz in Ordnung wären, um ein leichteres Leben zu haben. Es musste ja keine Leine sein, aber man würde sich mit den Menschen schon einigen können. Immer mehr Krähen hörten die Geschichte vom Hund und seiner Leine, die in manchen Fällen sogar lebensrettend sein konnte, und davon, dass die Menschen gar nicht so schlimm waren, wie sie immer gedacht hatten. Sie zogen in die Städte, und blieben über mit der Zeit das ganze Jahr über, ohne weiterzuziehen. Sie sitzen auf den Bäumen in der Stadt, beobachten die Menschen, und hoffen, dass die Menschen die Sprache der Tiere verstehen lernen. Was sie den Menschen unten auf der Straße zurufen? Ich glaube, sie fragen uns nach dem Preis der Freiheit.