…und ich fühle mich irgendwie einsam. Die vergangenen eineinhalb Jahre waren so unglaublich anstrengend, eigentlich bräuchten wir alle eine Pause. Aber die Kids müssen wieder ganz normal in die Schule. Ich finde das irgendwie komisch. Klar, wir hatten grade Pfingstferien, und 6 Wochen davor waren zwei Wochen Osterferien. Aber wie lange braucht man, um sich von eineinhalb Jahren zu erholen?
Und wie lange braucht ein Kind oder ein:e Jugendliche:r, um eineinhalb verlorene Jahre nachzuholen?
Vergangene Woche gab es eine Petition von bayerischen Abiturienten, dass die Mathe-Prüfung zu schwer war. Darauf antwortete unser toller Kultusminister (was ist das überhaupt für ein bescheuertes Wort: Kultus? Das ist ja fast so schlimm wie das katholische gebenedeit. Was für eine Sprache benützen wir eigentlich heute noch? Wenn ich diesen Gedanken weiter nachhänge, frage ich mich doch auch gleich, was das für eine bescheuerte Sprache ist, die selbsternannte Sprachschützer bewahren wollen? Der gebenedeite Kultus freut sich auf jeden Fall über solche rückwärtsgewandten Ideologen), jedenfalls antwortete unser Kultusminister, dass kein Jahrgang jemals zuvor so viel Zeit hatte, sich auf das Abitur vorzubereiten.
In meinen Ohren klingt das eindeutig danach, dass Schule anscheinend in den letzten beiden Schuljahren eigentlich unwichtig ist. Weil sich ja die Schüler offensichtlich ihr Zeug auch mit Youtube, Hausaufgaben und ein paar wenigen Stunden Online-Unterricht selber beibringen können.
Wenn also die Schule in den letzten beiden Jahren nur ein unnötiger Aufenthaltsort ist, wieso nicht auch in all den Jahrgangsstufen zuvor?
Unser Schulsystem, wie unser gesamtes kapitalistisch orientiertes Lebenssystem ist abgefuckt. Die Schulen marode, nicht mal in der Pandemie gab es Geld für ausreichenden Schutz der Schüler. Eine Luftfilteranlage kostet pro Klassenraum ca. 3000 Euro. Dafür war kein Geld da. Um der Industrie ein weiteres Pfund Zucker in den Allerwertesten zu pusten, schon. Und die Schüler sollen gefälligst ihre unnötige Zeit im runtergekommenen Schulhaus absitzen, und danach zu fleißigen Arbeiterbienchen werden.
Abgesehen davon bereitet eine:n die Schule ja nicht mal auf das Allernötigste vor. Was sind eigentlich Aktien? Wieso sind sie eventuell wichtig für meine Altersvorsorge? Was ist Steuerprogression, was muss in einem Mietvertrag stehen, welche Versicherungen sind wirklich wichtig? Das sind doch die entscheidenden Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Das müssen wir uns alles als Erwachsene wieder mithilfe von Youtube-Videos mühsam erarbeiten. Zumindest darauf hat unsere Kinder der Unterricht der vergangenen Jahre gut vorbereitet.
Jetzt ist wieder Schule. Also heißt es wieder Göthe und Schiller und Infinitesimalrechnung. Oder was grade immer an Schwachsinn auf dem Stundenplan steht. Letztens ist mir ein lustiges „Kastl“ auf Facebook angezeigt worden: „Und wieder ist ein Tag vergangen, an dem ich den Satz des Pythagoras nicht gebraucht habe!“ Wie wahr. Das meiste von dem, was ich in der Schule gelernt hab, hab ich nie mehr wieder gebraucht. Die lebendigen Sprachen sind eigentlich die einzige Ausnahme. In Deutsch war ich immer gut, aber das hatte ich einfach in mir. Da hatte die Schule nichts damit zu tun. Ich habe schon immer gerne geschrieben, auch bevor ich in die Schule gekommen bin. Und diese Begeisterung konnte mir zum Glück selbst die schlechteste Lehrkraft nicht nehmen.
Was mich ansonsten immer weit vorgehauen hat, waren Bücher. Allerdings ganz bestimmt nicht die Schul-Lektüren. Die waren meistens scheisse. Ich hab bis heute keine Ahnung, was mir „Woyzeck“ eigentlich sagen hätte sollen.
In dieses marode Netzwerk müssen sich jetzt meine Kinder also wieder einfügen. Der Große ist damit cool. Der mag Online- genau so wie Offline-Unterricht, der hat das Glück gut in Mathe zu sein (manchmal glaube ich, er wurde nach der Geburt im Krankenhaus vertauscht), und er ist resilient und zielorientiert. Man sagt ja oft, es ist alles die Mutter. Bei meinen beiden unterschiedlichen Kindern muss ich eine gespaltene Persönlichkeit haben…
Die 14Jährige ist vollkommen überfordert. 14 ist ohnehin ein schwieriges Alter – in dieser entscheidenden Phase des Lebens nur daheim zu sitzen, ohne Freunde, ohne „Peer-Group“, ohne Sportverein, nur mit dem Computer, ist fatal. Wenn nun jemand noch ein bisschen introvertiert und sensibel ist, wird es eine existentielle Bedrohung. Zucker-, und Computersucht, gesundheitliche Folgen auf allen Ebenen, werden zu reellen Gefahren.
Wenn dann die Eltern auch noch arbeiten gehen müssen, ist kaum abzusehen, was für Narben die Seele eines Kindes oder Teenagers davontragen wird. Und Schule ist dafür ganz sicher kein Heilungsbiotop.
Wir brauchen eine andere, eine neue Schule. Eines, das nicht mehr schlecht als recht auf eine kapitalistische Gesellschaft vorbereitet, die bewertet und beurteilt, die spaltet in „gut“ und „schlecht“.
Wir brauchen Klassenzimmer mit Bewegungsmöglichkeiten, ein Begreifen mit allen Sinnen, logisches Denken, Medienkompetenz, Sozialkompetenz, Wahrnehmungsfähigkeit, Entspannungsfähigkeit. Wie viele Menschen bekommen einen Herzinfarkt, nur, weil sie nie gelernt haben, sich zu entspannen!
Diese Unfähigkeit kann eine:n am Ende tatsächlich das Leben kosten. Den Satz des Pythagoras nicht zu können, hat mich dagegen noch nie in ernsthafte Bedrängnis gebracht.
Jetzt ist aber die ganz normale, ganz gewöhnliche Schule wieder losgegangen. Wer weiß, wie lange es noch dauern wird, bis es endlich ein Schulsystem geben wird, in dem sich wirklich jede Schülerin und jeder Schüler auf einen Neustart freut. Im Moment sind wir davon noch Lichtjahre entfernt.
Mit Verve geschrieben – man merkt, das ist ein Herzensthema für dich. Das meiste würde ich auch unterschreiben. Und über unseren „gebenedeiten“ Kultusminister kann man leider nicht mal lachen. Dazu hat er zuviel Macht – oder besser, die Macht haben die ganzen Bürokraten hinter ihm, und er verkörpert sie mit unerträglicher Arroganz.
Vielen Dank für Deinen sehr lieben, mitfühlenden, und so wahren Kommentar, liebe Ilse! <3