In unseren so tollen „modernen Zeiten“ habe ich oft das Gefühl, dass wir kollektiv unter einem Werteverlust leiden. Das soll jetzt kein konservatives Gewäsch sein, aber vielleicht geht es Dir ja auch so? Irgendwie ist unser Leben in dieser schönen bunten instagram-geprägten Welt in vielen Bereichen schon ein bisschen oberflächlich geworden, oder? Wer hält schon noch was von Treue, Verlässlichkeit, Loyalität, Disziplin, oder Familie? Um für Werte gradezustehen müsste man ja auf etwas verzichten! Gott bewahre! Wir wollen schließlich immer alles, und das jetzt sofort. (Kleine Randbemerkung meinerseits: Kein Wunder, dass wir kollektiv immer fetter und verzogener werden. Wir sind es schließlich gewöhnt, alles zu jeder Zeit immer zur Verfügung haben! Aber darum soll es heute nicht gehen.)
Einer der Werte, die innerhalb weniger Jahrzehnte fast aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind, ist die Familie. Über Jahrtausende, oder wahrscheinlich noch viel, viel länger, war Familie das, was die Menschen beschützt und begleitet, was unser Überleben als Menschheit gesichert hat. Der Generationenvertrag hat funktioniert. Und unglaublich aber wahr: Die Menschheit hat sich trotz dieses hinderlichen Konstrukts, das für viele heute einfach nur ein lästiges Ding ist, das Zeit und Nerven und Freiheit kostet, immer weiter entwickelt!
Und seit wenigen Jahrzehnten wird an dieser menschlichen Keimzelle des Lebens gesägt. Ich finde das ganz schrecklich. Es geht mir nicht um ein traditionelles Familienbild aus Vater-Mutter-Kind. Es geht um ein Gefühl von Verantwortung füreinander, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl, darum, dass wir mehr sind, als nur unsere wirtschaftliche Produktivität, unsere Urlaubsfotos, und unsere ach so vielgelobte Unabhängigkeit. Mir kommt es oft so vor, als würde unsere Gesellschaft mit aller Macht verdrängen, dass in Wirklichkeit jeder und jede von einer größeren Gruppe abhängig ist. Und dass wir spätestens dann von anderen abhängig werden, wenn wir alt und grau und hilfsbedürftig sind. Wir sind nicht unsterblich. Wir haben nichts unter Kontrolle. Das bilden wir uns zwar gesamtgesellschaftlich gerne ein, aber es ist einfach nur eine Illusion.
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein Familienmensch bin. Das liegt aber sicher nicht daran, dass ich in die perfekte Familie geboren worden wäre, wo es niemals Streit gibt.
Das liegt daran, dass ich mir irgendwann im Laufe meines Erwachsenenlebens bewusst geworden ist, dass Eltern und Großeltern nicht für immer auf dieser Welt sein werden, und dass nicht jeder Mensch das Glück hat, mit Mama und Papa groß zu werden.
Manche Menschen verlieren ihre Eltern, oder ein Elternteil viel zu früh. Das reißt immer eine große Lücke in ein Leben, unter der man für immer leidet.
Schon alleine, dass man Eltern hat, die da sind, die man anrufen oder besuchen kann, ist ein Geschenk. Natürlich gibt es auch schlimme Eltern, die einem das Leben zur Hölle gemacht haben. Aber das sind zum Glück die großen Ausnahmen.
Aber auch dann muss man ja nicht ohne Familie auskommen. Auch eine Wahlfamilie, oder ein Ehepartner, oder eigene Kinder, oder eine gute Nachbarschaft. Oder ein Mehrgenerationen-Haus. Die Zeit von Vater-Mutter-Kind ist ohnehin vorbei. Es gibt so viele andere Formen von Familie. Alle sollten vor allem ein Geborgenheits- und Sicherheitsgefühl vermitteln. Ein Gefühl von bedingungsloser Liebe, von Wertschätzung, von Respekt, von Zusammengehörigkeit.
Das Wichtigste in einer Familie sollte sein, dass man sich immer aufeinander verlassen kann. Egal, um welche Uhrzeit, egal, um welchen kleinen oder großen Notfall es geht – Familie sollte der Ort sein, an dem man immer Schutz und Zuspruch findet.
Du denkst jetzt vielleicht, dass Du ja nicht dafür verantwortlich bist, ob Du ein gutes Verhältnis zu Deiner Familie hast. Du denkst vielleicht, dass Du ja nichts dafür kannst, wenn Deine Familie kein schützendes Zuhause für Dich ist, und Du keine enge Beziehung zu Deinen Eltern hast.
Manchmal stimmt das. Dann muss man sich eben eine neue Familie suchen. Aber das sind, davon bin ich überzeugt, nur der kleinste Teil aller Fälle. Der bestimmt weit größere Teil sind die Familien, in denen einfach niemand bereit ist, die Macken der anderen hinzunehmen. In denen niemand über die Fehler der anderen hinwegsehen kann. In denen man sich eben nicht respektiert und bedingungslos liebt. Da gibt es so viele Abers, so viele Vorwürfe, so viele unverheilte Wunden.
Aber wenn man wirklich ein erwachsener Mensch ist, lernt man mit der Zeit die Fehler der Eltern aus der Vergangenheit zu verstehen. Die waren nämlich auch nur Menschen! Und natürlich haben die Fehler gemacht, weil Menschen nun mal Fehler machen. Und trotz unserer menschlichen Fehlerhaftigkeit ist es ganz sicher keine Alternative, von perfekten Maschinen großgezogen zu werden.
Ich finde, Familie ist etwas Wunderbares. Mit allen Fehlern und Komplikationen, all den unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen, mit allen Unterschieden und Komplikationen.
Und: Ob Du eine „gute“ oder „schlechte“ Familie hast, hängt sehr stark von Dir selbst ab. Von Deiner Fähigkeit, zu verzeihen und Nachsicht walten zu lassen. Von Deiner Fähigkeit zu bedingungsloser Liebe. Es liegt an Dir, ob Du auch als erwachsener Mensch Deinen Eltern noch Vorwürfe machst, und voll Groll bist.
Klar ist es für einen jungen Menschen wichtig, die Ursprungsfamilie ein Stück weit zu verlassen. Natürlich sollte man seine Partnerwahl nicht unbedingt von der Meinung der Eltern abhängig machen. Allerdings sollte man sich von der Meinung der Eltern schon ein Stück weit beeinflussen lassen. Auch, wenn man das der eigenen Mama und dem eigenen Papa ungern zutraut, kennen sie uns am allerbesten. Wenn der Partner im Elternhaus so unbeliebt ist, oder er oder sie vielleicht sogar die eigene Familie schlecht macht, und einen offensichtlichen Keil zwischen Partner*in und Eltern treiben will, sollte man dringend hellhörig werden. Manchmal ist das eher ein Anzeichen für eine problematische Partnerschaft, und nicht für Probleme in der Familie.
Sei nachsichtig mit Deinen Eltern. Man muss ja nicht unbedingt Weihnachten, alle Sonntage, oder jede freie Minute mit ihnen verbringen. Aber man kann sie lieben, und im Falle des Falles füreinander da sein.
Man kann ihnen verzeihen. Man kann freundlich und gut mit ihnen sein. Man könnte über ihre Fehler hinwegsehen, und sich auf das Gute fokussieren.
Man kann selbst eine Familie gründen, die einem Halt gibt, und in der die Liebe wohnt.
Was aber alle Formen des menschlichen Zusammenlebens in Harmonie eint, ist Kompromiss- und Konfliktfähigkeit, dass man auch mal nachgeben kann, dass man sich einbringt. Es ist so wichtig, reflektiert zu sein, und sich eher auf den eigenen Balken, als auf den Dorn im Auge des anderen zu konzentrieren. Es ist so wichtig, die eigene Verantwortung für die Qualität der Bindung innerhalb der Familie zu übernehmen. Egal, wie schlimm eine Situation ist – Du hast durch Deine Einstellung und Deine Handlungen immer einen Einfluss darauf, wie sie sich entwickelt.
Und: Jede Beziehung ist immer auch mit Arbeit verbunden. Jede Beziehung will gepflegt werden. Einer der größten Schritte zu einem glücklichen und entspannten Miteinander ist ganz sicher die Einsicht, dass NICHTS, aber auch gar nichts auf dieser Welt selbstverständlich ist.
Irgendwann werden Deine Eltern tot sein. Das ist eine traurige, unumstößliche Tatsache. Wenn Dir dann einfällt, dass Deine Eltern vielleicht doch gar nicht so verkehrt waren, ist es zu spät.
Vor vielen Jahren habe ich eine therapeutische Ausbildung gemacht, in der Familie als etwas Schlechtes dargestellt worden ist. Laut dem Lehrer von damals ist Familie die Brutstätte allen Übels, und man sollte sich unbedingt von seinen Eltern lösen, um „wachsen“ zu können.
Heute bin ich vom Gegenteil überzeugt. Eine Familie ist der ideale Ort, um sich entwickeln und wachsen zu können. „Was ein Mensch am dringendsten braucht, sind Wurzeln und Flügel.“ Den Satz kennt wahrscheinlich jeder.
Ich denke mir, wenn man seine Wurzeln kappt, ist eine große Versorgungsmöglichkeit abgeschnitten. Und auch, wenn man Eltern haben sollte, die das mit dem Flügelverleihen nicht so ernst nehmen, kann man ihnen das verzeihen, und sich selbst Flügel wachsen lassen.
Aber für Bodenhaftung und ein, wie auch immer geartetes Heimatgefühl, sind selbst „defizitäre“ Eltern sicher eine gute Adresse. Und wer kann schon von sich behaupten, keine Defizite zu haben?
Ich denke mittlerweile sehr familienzentriert. Sowohl in der Therapie, als auch im „normalen“ Leben. Familie ist etwas Wunderbares.
Auch, wenn Du, wie ich, Weihnachten lieber ohne Eltern und Familie und Stress und Termine verbringst, kannst Du ja zumindest öfter mal anrufen. Kannst Du Frieden schließen. Kannst Du Dich in Dankbarkeit üben.
Das Leben ist ein Geschenk.
Und eins steht zweifelsfrei fest: Egal, wie viele Fehler Deine Eltern gemacht haben, dieses größte Geschenk von allen, hast Du nur ihnen zu verdanken.