Wie Elfie wieder gehen lernte – eine mutmachende Geschichte

Die Elfie und ich kannten uns schon eine Zeit lang, bevor sie ein Pflegefall wurde. Noch einige Zeit vor ihrem Sturz kam sie regelmäßig zur Behandlung in meine Praxis.

Als sie sich dann für einige Monate nicht mehr meldete, dachte ich mir nichts dabei. Viele Patienten legen mal eine längere Therapie-Pause ein, oder wechseln die Praxis. Ist ja nicht weiter schlimm.

Irgendwann rief ihre Tochter bei mir an. Elfie hätte sich bei einem Sturz den Arm gebrochen, und sei danach auch noch am Innenohr operiert worden. Es ginge ihr gar nicht gut, sie sei bettlägrig und bräuchte einen Hausbesuch. Wir vereinbarten gleich für die folgende Woche den ersten Termin.

Elfie war zu diesem Zeitpunkt 77 Jahre alt, und die Prognose sah ziemlich düster aus. Die arme Elfie, sie war doch immer so eine rüstige und vitale Frau gewesen.

Als ich zum ersten Hausbesuch kam, war ich zutiefst schockiert. Elfie lag im Bett, sie war blass und viel zu dünn, und sie wirkte ein bisschen desorientiert. Zum Glück erkannte sie mich nach einigen Momenten. Die ersten Termine verbrachten wir vor allem Atemtherapie und winzigen Übungen in Rückenlage. Nebenbei machten wir ganz unbemerkt kleine Gedächtnisübungen, und ich versuchte, sie immer mal wieder zum Lachen zu bringen. Lachen ist zum einen die beste Atemtherapie, und zum anderen schüttet es Dopamin im Gehirn aus. Das fördert unter anderem das allgemeine Wohlbefinden und die Motivation. Es ist wirklich unglaublich wichtig, die Patient:innen während der Therapie zum Lachen zu bringen. Lachen ist die unterschätzteste Behandlungstechnik überhaupt.

Obendrein fördert es dann auch noch die Gesundheit des Therapeuten und erhöht natürlich für beide Seiten den Spaß an der Sache. Es sollte Fortbildungen in „witzebasierter Physiotherapie“ geben. Denn nichts ist öder, als 20 mal die gleiche Übung zu machen, und dabei langweilig mitzuzählen. Ein kleiner Witz vertreibt die Zeit, und am Ende verzählt man sich dabei noch und macht ganz unbemerkt statt 20, 25 Wiederholungen.

Nach ein paar Behandlungen im Bett begannen wir mit aufsetzen an die Bettkannte. Die ersten Male waren schwer und schmerzhaft für die arme Elfie. Aber ich wusste, wir müssen da gemeinsam durch, sonst bleibt die Elfie im Bett, bis sie unnötigerweise an einer Lungenentzündung stirbt. Das hab ich ihr auch so erklärt, und sie immer wieder motiviert und sie angebettelt, und sie gelobt, und angefeuert. „Ich weiß, das tut weh, und ist furchtbar anstrengend, aber ein einziges Mal schaffst du es noch, dich aufzusetzen. Und noch einmal. Nur einmal noch, du schaffst das. Super!!! Und jetzt noch ein letztes Mal.“ Und dann noch drei Mal, bis sie am Ende der Behandlungen fix und fertig zurück ins Bett fiel.

Monatelang übten wir Schritt für Schritt den Weg zurück ins Leben. Vom Aufsetzen hin zum Aufstehen. Vom kurzen Aufstehen hin zu 5 Minuten an der Bettkannte stehen. Vom Stehen hin zu den ersten kleinen Schritten. Von den ersten kleinen Schritten hin zum freien Bewegen in der Wohnung. Vom ebenerdigen Gehen hin zu den ersten Stufen, bis wir irgendwann nach zwei Jahren gemeinsam die ganze Treppe hoch und wieder runtersteigen konnten. Ein paar Wochen später konnte sie wieder alleine und ohne Hilfe Treppen steigen.

Elfie war zurückgekehrt ins Leben. Ein Mal in der Woche brachte ihre Tochter sie zur Kaffeerunde mit ihren Freundinnen, sie machte Tagesausflüge für Senioren, und besprach mit der 24-Stunden-Pflegekraft die Einkaufsliste. Die Pflegekraft würde sie auch weiterhin brauchen, auch wenn sie wieder gehen konnte, und geistig „voll da“ war. Elfie ist nämlich auch noch sehr stark sehbehindert, und hat Diabetes und ein paar andere Zipperlein, die man mit fast 80 Jahren eben so hat.

Schon alleine zum Einkaufen und Medikamente sortieren, und um nachts nicht alleine aufstehen und aufs Klo gehen zu müssen, war die Hilfe unerlässlich.

Aber: Elfie war vom bettlägrigen Pflegefall (wieder) zu einer geistig und körperlich beweglichen alten Dame geworden, die noch regelmäßig Besuch von Freunden, Nachbarn, und Familie bekam, die ihr Leben organisierte, Termine für Arzt, Frisör, Fußpflege, Physio, und so weiter vereinbarte, und kleine Busreisen und Ausflüge mit der Familie unternahm.

Sie hatte noch ein paar wirklich schöne Jahre in ihrem Zuhause. Irgendwann musste sie dann ins Altenheim. Weil die Familie keine Pflegekraft mehr finden konnte. Die letzte, sehr liebe Hilfskraft aus Rumänien hatte eine gute Stelle in der Nähe ihrer Tochter angeboten bekommen, und die rumänische Agentur hatte keinen Ersatz für sie.

Dass dieses schreckliche System, in dem Frauen aus Niedriglohn-Ländern für winziges Geld Menschen betreuen, wirklich ein Armutszeugnis für ein reiches Land wie Deutschland ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. Am schlimmsten sind die deutschen Pflegedienste, die diese Damen vermitteln. Die verlangen unglaubliche Summen, aber die Ladies bekommen von den vielen tausend Euro nur einen Bruchteil. Ich hab mich ein Mal auf einem anderen Hausbesuch mit einer der Frauen angefreundet. Wir waren ungefähr gleich alt, und sie hatte einen Sohn, der jünger war als meine beiden Kinder. Ich hab ihr dann immer einen Haufen Klamotten und andere Kindersachen geschenkt, die bei uns zu klein oder zu uninteressant geworden waren.

Irgendwann hab ich sie mal gefragt, was sie verdient. Sie war immer 4 Wochen hier im Haushalt, und dann wieder 4 Wochen daheim. In der Zeit, in der sie hier war, musste den 3Jährigen Sohn zuhause in der Slowakei die Oma betreuen. Für die 4 Wochen hier bekam sie 600 Euro von einem ortsansässigen Pflegedienst ausgezahlt, für die 4 Wochen daheim nichts.

Die Ladies bei der Elfie kamen von einer Agentur in Rumänien, hatten für hier in Deutschland nur eine Auslandskrankenversicherung, und waren ansonsten in Rumänien gemeldet. Das sparte natürlich Krankenkassenbeiträge und Lohnnebenkosten, und die bekamen dann immerhin 1200 Euro. Immer noch sehr wenig, aber zumindest das doppelte wie im obigen Fall.

Dass wir hier in Deutschland unsere alten Menschen nur über ausbeuterische Systeme betreuen und versorgen lassen können, ist furchtbar. Entweder, die Familien übernehmen das kostenlos und in Eigenleistung, oder die Leute müssen in Seniorenheime, oder eben zuhause gepflegt werden. Alle Modelle haben gemeinsam, dass die Betreuungsleistungen weder Anerkennung, noch angemessene Entlohnung erhalten. Man bekommt den Eindruck, alte Menschen seien bei uns ziemlich wertlos.

Jedenfalls hatte die rumänische Agentur irgendwann keine freie Mitarbeiterin mehr, die zur Elfie kommen könnte, und über einen deutschen Pflegedienst zu buchen, konnte sich die Familie nicht leisten. Das ist nämlich wesentlich teurer, als in ein Heim zu gehen. Das Heim wird von der Pflegeversicherung mitbezahlt, die Pflege zuhause nur zum Teil. Also musste die Elfie ins Heim.

Erst war sie sehr unglücklich über diesen Schritt. Aber ganz alleine konnte sie einfach nicht bleiben. Es half alles nichts, sie musste von zuhause ausziehen.

Mittlerweile ist die Elfie 86 Jahre alt, und hat das Seniorenheim sehr zu schätzen gelernt. Sie geht mit ihrem schicken, leuchtendroten Rollator genauso schnell wie ich, kann nebenher auch noch locker plaudern, und sagt, so gut wie hier im Heim hatte sie es ihr ganzes Leben nicht. „Ich hab hier überhaupt keinen Kummer und keine Sorgen, ich brauch mich um nichts kümmern, die Wäsche wird gewaschen (und manchmal verwechselt oder verbummelt, aber was soll`s), das Essen ist gut, der Garten ist schön. Wirklich, so gut wie hier ist es mir noch nie gegangen!“

Ich komme immer noch zur Elfie auf Hausbesuch. Wir machen ein bisschen Übungen, oder ich massiere ihr den Rücken oder die Füsse – irgendwas fällt uns immer ein. Aber vor allem ratschen wir immer ohne Punkt und Komma. Wir haben gemeinsam so schwere Zeiten durchgestanden, konnten uns immer aufeinander verlassen. Während des ersten langen Lockdowns habe ich ihr jede Woche einen zehn Seiten langen Brief geschrieben. In Schriftgrad 20, Schriftart Arial. Das können sehbehinderte Menschen anscheinend am besten lesen, sagen die Experten bei google.

Wir halten einfach zusammen, die Elfie und ich. Weil wir uns mögen. Und weil wir gemeinsam das Unvorstellbare geschafft haben: Eine 77jährige bettlägrige Patientin zu einer glücklichen, rüstigen alten Lady zu zurück zu verwandeln.

Das Einzige, was dazu nötig war, war ein eiserener Wille, ein bisschen Disziplin, der unerschütterliche Glaube daran, was alles möglich sein kann, und ab und zu ein herzliches lautes Lachen.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ilse

    Vielen Dank für diese schöne Mut machende Geschichte!

Schreibe einen Kommentar zu Ilse Antworten abbrechen