Ihr wisst es alle, Ihr kennt es alle, jeder spürt die Auswirkungen auf eine eigene, individuelle Weise. Am schlimmsten trifft es wohl im Moment die, die auf die Welt kommen wollen und diejenigen, die unsere Welt verlassen. Diese Woche ist der Sohn einer lieben alten Dame aus meinem Umfeld im Alter von 60 Jahren verstorben. Die nette Lady ist im Altenheim. Von dem Heim hab ich vor zwei Wochen schon mal erzählt. Mittlerweile hat sich die Lage dort noch drastisch verschlimmert, das Heim gleicht einer Festung. Ich hatte einen Kondulenzbrief geschrieben. In „Leichter Sprache“ (dazu findet man hilfreiche Tipps im Internet), in einer gut lesbaren Schriftart und in sehr großen Buchstaben, damit sie es auch trotz ihrer Fast-Blindheit entziffern kann. Handschrift ist bei Pflegebedürftigen oft sehr problematisch. Oft haben sie in ihrer Kindheit noch die alte deutsche Schrift gelernt, und erst später die neue Schreibschrift.
Ich hab den Brief eingepackt (Post hat mir zu lange gedauert) in der festen Absicht, ihn im Heim einzuwerfen. Denkste. Das Heim ist verschlossen, selbst zur Abgabe von dringend benötigten Dingen gibt es sehr kurze festgelegte Öffnungszeiten. Nicht mal die Post darf außerhalb dieser Zeiten zum Postkasten. Nur von Montag bis Donnerstag von 13 bis 16 Uhr darf man an der verschlossenen Türe klingeln. Dann kommt nach einigem Warten eine Büroangestellte, nimmt die Sachen entgegen und schwupps, ist die Türe wieder zu. Zuerst hab ich ja gedacht, ich schleiche mich ans Fenster und gebe ihr meine Post durch´s Fenster. Aber es ist wirklich wie im Film, das Altenheim ist mit einem Bauzaun mit Plane großräumig abgesperrt.
Im Prinzip scheint es auf den ersten Blick ja vorsichtig und logisch, die Altenheime vollkommen abzuriegeln. Immerhin ist in so einem Heim ja eine einzige Risikogruppe untergebracht. Andererseits kommt aber in dem Fall noch ein anderes Argument zum Tragen, das vorher wohl keiner so richtig im Blick hatte:
hier in Straubing sind alle Heime mittlerweile hermetisch abgeriegelte Areale. Es darf außer den Mitarbeitern keiner rein oder raus. Das Problem ist der Umgang mit den Senioren innerhalb dieser Mauern aus Plane und Beton: sie dürfen auch nicht aus ihren Zimmern. Sicherheitsmaßnahme, denkt man. Klar. Aber hier liegt das große Problem. Die Menschen sind alt. Und wenn sie gar nicht mehr aus ihren Zimmern dürfen, liegen sie entweder den ganzen Tag im Bett oder sitzen im Lehnstuhl beziehungsweise auf dem Sofa. Zu Essen gibt es natürlich weiterhin vier Mahlzeiten am Tag, inklusive des gewohnheitsmäßigen Stück Kuchens. Was passiert wohl, wenn ein alter, ohnehin schon pflegebedürftiger Mensch bei gleicher Kalorienzufuhr nur noch im Zimmer vor sich hindümpelt? Wir ahnen es alle. Er wird dick. Viele der Bewohner*innen haben Diabetes oder andere Begleiterkrankungen. Dass fehlende Bewegung und Übergewicht eine schlimme, ja lebensbedrohliche Situation sein kann, für dieses Wissen muss man kein Mediziner sein.
Am schlimmsten ist es für die alten Knochen und die in die Jahre gekommene Lunge. Durch fehlende Bewegung und rasche Gewichtszunahme wird die Lunge nicht mehr richtig belüftet. Das kann dann im schlimmsten Fall zu Lungenentzündung führen. Ihr seht, was ich meine? Es ist ein Dilemma. Entweder sterben die Menschen an einer neuen, oder einer altbekannten Lungenkrankheit. Oder sie werden einfach immobil, können dann, wenn sie endlich wieder das Zimmer verlassen dürfen nicht mehr richtig oder gar nicht mehr laufen. Und jeder weiß, dass bei alten Menschen verloren gegangene Leistungsfähigkeit nur im Ausnahmefall zurück erobert werden kann.
Hinzu kommt die psychische Komponente. Ich dachte immer, Einzelhaft wäre so ziemlich die schlimmste Strafe, die es für Inhaftierte gibt. Das letzte, was man einem Menschen nehmen sollte, sind die sozialen Kontakte. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, aber ich dachte eigentlich, Isolation sei zumindest sehr nahe an Folter. So müssen sich aber die Alten zur Zeit fühlen. Hinzu kommt, dass das Personal nur noch in Ganzkörper-Schutzanzügen die Pflege macht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muss, wenn der einzige menschliche Kontakt durch einen marsianischen Schutzanzug passiert. Da kommt ein paar Mal am Tag, zum Essen-Austeilen und zu einem Minimum (seien wir ehrlich, die war auch vorher schon nicht die Beste) an Körperpflege so ein Alien ins Zimmer, stellt einem das Essen hin und verschwindet wieder. Irgendwie kommen mir da grade Bilder von Experimenten an Menschen aus Science-Fiction-Filmen in den Sinn.
Im Fall der netten alten Dame, der ich meinen Brief in den Hochsicherheitstrakt gesendet habe, ist es nun so, dass gar nicht sicher ist, ob sie überhaupt zur Beerdigung ihres eigenen Sohnes gehen darf. Bisher hat sie noch kein ok bekommen. Und ich fürchte, auch noch nicht allzu viele tröstende Worte. Die Büroempfangsdame, die den ganzen Tag nur wenige Meter entfernt von den Bewohnern arbeitet, war angesichts ihres breiten Lächelns in keiner Weise über diesen Schicksalsschlag informiert.
Hoffen wir und drücken wir gemeinsam die Daumen, dass die Mutter ihren Sohn zumindest noch auf dem allerletzten irdischen Weg begleiten kann.
Leider ist sie insgesamt schon sehr unbeweglich, und auch so gut wie blind, dass sie keine Bücher mehr Lesen kann. Sonst hätte ich ihr das Buch „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ ins Heim geschickt.